Die tausend toten Augen eines jungen Mädchens

Julián sprach nie viel. Er mied die anderen Bewohner der Kanäle de Cuemando. Auf seiner schwimmenden Insel, der chinampa, lebte er vor sich hin, lebte von dem, was die Wasser ihm als Nahrung boten. Fischte er genug, ging er in die befestigten Strassen von Xochimilco, seinen Fang zu verkaufen. Oft genug wurde er beobachtet, an jeder Strassenecke von Gott zu sprechen, Selbstgespräche führend, den Herrn um Beistand anflehend, predigend.

Don Julián Santa Ana BarreraJulián Santa Ana Barrera sammelte Müll während seiner Verkaufszüge durch die Strassen des naheliegenden Stadtviertels, wirklich wohl und sicher fühlte er sich jedoch nur in der Sumpfgegend um seine chinampa, seine künstlich angelegte Insel im See von Xochimilco.

Manchmal besuchte ihn sein Neffe, Anastasio. Julian nahm ihn mit zum Fischen. Und eines Tages redete Don Julián, ganz im Gegensatz zu seiner fast autistischen Art. Anastasio erfuhr, dass Don Julio Stimmen vernahm. Stimmen, die mit ihm redeten, Stimmen vor allem eines jungen Mädchens, welches er vor einiger Zeit tot treibend vor seiner chinampa aufgefunden hatte. Sie hatte sich ertränkt, das arme Ding. Seither hörte Don Julián die Klagen, das Weinen einer jungen Frau.

Und mit den Stimmen, den Wehklagen dieses jungen Mädchens begann die Sammlung der Puppen. Wo immer Don Julián auf seinen Müllstreifzügen durch die befestigten Strassen der Stadt weggeworfene Puppen fand, er nahm sie mit auf seine Insel. Viele Puppen fanden sich dort im Laufe der Jahre ein. Mit jeder Puppe, die er sorgfältig in die Büsche, in die Bäume drapierte, wurde die Klagestimme des Mädchens leiser. Aber sie verstummte nicht.

Eines Tages, es war der 17. April 1991, besuchte Anastasio seinen Onkel Julián wieder, beide gingen fischen in den Kanälen von Xochimilco. Julián fing gerade einen besonders grossen, vielleicht 5 Kilo schweren Fisch, der ihm zuvor mehrmals entkommen war. Er zeigte ihn Anastasio voll Stolz und zugleich sagte der Alte „die Sirene (Meerjungfrau) hat gerufen! Ich werde jetzt singen, damit sie mich nicht mitnimmt, und Du pass auf Dich auf!“

Anastasio ging. Er sollte die weidenden Kühe beaufsichtigen. Als er jedoch zurückkam war sein Onkel verschwunden. Lange suchte er ihn. Schliesslich wurde Don Julián genau an dem Ort gefunden, an welchem sich das junge Mädchen lange Zeit vorher ertränkt hatte.

Die chinampa des Don Julián Santa Ana Berrera heisst heutzutage die Insel der Puppen: Isla de las Muñecas.

Das folgende Video, wenn auch in spanisch kommentiert, zeigt dennoch die besten Eindrücke der Isla de las Muñecas, ist jedoch nicht für kleine Mädchen/Kinder empfehlenswert:

22 Kommentare zu “Die tausend toten Augen eines jungen Mädchens

  1. Boah , beim Lesen und Schauen lief mir doch echt ein kalter Schauer über den Rücken , und das will was heißen bei momentanen 31°C …..

    Liebe Grüße
    PS: bin wieder fit wie ein Turnschuh 🙂

    • Manche Leute sagen, dass sie glatt Angstzustände während ihres Besuches bekommen haben!
      Hauptsache aber ist, Du bist wieder voll fit!
      Grüsse nach Isla Margarita, gleiche Temperatur, gleicher Dampf wie hier!
      Nichts wie ab ins Plantschbecken!

  2. Die Geschichte erinnert mich an eine ähnliche Form der Verehrung von Schutzheiligen, die mir im Norden Mexikos begegnete, welche ich, wenn ich mir erlauben darf, hier ergänzend ausführen möchte. Und zwar handelt es sich um den Schutzpatron Juan Soldado, ein junger Soldat, beschuldigt der Vergewaltigung und Ermordung eines achtjährigen Mädchens, im Jahre 1938 durch das Ley Fuga hingerichtet. Das Gesetz sah vor, so wurde mir erzählt, der Verurteilte hätte vor dem Schuss aus einem Gewehr Zeit bekommen, um zu fliehen. Wenn er es innerhalb der Zeit geschafft hätte, ein Stück zu laufen und über eine Mauer zu klettern, wäre er frei gewesen (Allerdings war die Zeit so knapp bemessen, dass er, um zu entkommen, hätte fliegen müssen). So wurde er erschossen und auf Tijuanas Pantheon begraben. Nach seiner Hinrichtung erzählte man sich, Juan Soldado sei unschuldig verurteilt worden, und es verbreitete sich der Vermutung, er könne Wunder vollbringen. Diejenigen, die an seine Unschuld glauben, kommen zu der kleinen Kapelle auf dem Pantheon, und bitten Juan Soldado um die Erfüllung eines Wunders (z. B. die Heilung eines Kranken). Die Migranten kommen und bitten um einen erfolgreichen Grenzübertritt …

    • Recht herzlichen Dank für diesen Kommentar, der einen eigenständigen Post verdient hätte, Valentino! In einer Doku um diese unsägliche Mauer zwischen Mexico und ‚el otro lado‘ kam mir wohl mal Juan Castillo unter, habe dies aber nicht weiter verfolgt.
      Danke für die Geschichte, mal sehen, ob ich hier ein Video einbetten kann.

  3. Huh….das ist wirklich eine gruselig Geschichte, richtig unheimlich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Insel besuchen und auf ihr herumspazieren möchte. Die vielen Puppen sehen sehr schauerlich aus. Und Julian hat wirklich existiert und seine Erlebnisse sind ist tatsächlich wahr?
    LG von Rosie

    • Julian lebte wirklich auf der Insel. Er fing etwa in den 1950er Jahren mit dem Sammeln der Puppen an. Sein Neffe, der Moderator des Videos bezeichnet ihn zwar mit Respekt aber wohl doch als einen seltsamen Kauz, der auch in den Strassen von Xochimilco, einem Ort nahe Mex-City, wegen seiner Selbstgespräche auffiel und seine Predigten an fast jeder Strassenecke empörten sogar die gläubigen Katholiken, da sie dies als Anmassung betrachteten.
      Wahrscheinlich hörte Julián wirklich eine Sirene nach ihm rufen, wahrscheinlicher ist aber, dass er eines natürlichen Todes starb.
      LG

  4. Wirklich eine ganz irre, spannende und visuell einzigartige Geschichte. Ich hätte so gerne verstanden, was er auf dem Video erklärt. Und ich frage mich, warum auf den Puppen so viele Fliegen sitzen. Eine Geschichte, die mir genauso gut gefällt, wie die Sache mit Xul, Ich liebe das Abseitige. Vielen Dank.

    • Die Insel der Puppen liegt in einem flachen See. In den vergangenen Jahren wurde das ehemalige Flachwasser und teils versumpfte Gebiet in Xochimilco zur einem Öko-Reservat umgestaltet. Auf der Isla de las Muñecas jedoch wurde die Hütte und Garten den Don Julián belassen, der Natur überlassen. Wahrscheinlich nimmt man gerne die Ameisen und fliegen als zusätzlichen Grusel-Efekt in Kauf.
      Im Video erzählt Anastasio, der Neffe Don Juliáns mehr oder weniger obige Geschichte.
      LG

  5. Liebe Vallartina, nachdem dein Blog jetzt 3 Minuten „gerödelt“ hat, habe ich es aufgegeben, ein Bild oder gar ein Video zu sehen – die Schwierigkeiten habe ich ja bei mir ausreichend beschrieben.
    Aber die Geschichte allein gefällt mir auch schon sehr – ich kann mir diese Art von „Telepathie“ sehr gut vorstellen.
    Lieben Gruß an dich!

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